Schlaf der Vernunft

Erstellt am 5.12.15. Kategorie: Buchrezensionen
„Schlaf der Vernunft“
von Tanja Kinkel
Bewertung
★★★★★
Verlag Droemer Knaur
Buchform Gebunden, Taschenbuch eBook
Erschienen November 2015
Seiten 448
Erhältlich beiAP-Buch Baldham, Buchladen Vaterstetten

Obwohl dieses Buch fast 450 Seiten hat, habe ich es in weniger als drei Tagen gelesen. Das sagt eigentlich schon eine Menge darüber aus, wie fesselnd ich die Geschichte fand, dabei geht es darin um ein äußerst schwieriges, komplexes und sehr beklemmendes Thema, nämlich um den „Deutschen Herbst“ und die Schreckenszeit der RAF.

Natürlich habe ich damals von den furchtbaren Terroranschlägen gehört und die Fahndungsplakate im Postamt, der Sparkasse und anderswo gesehen. Namen wie Christian Klar, Ulrike Meinhof, Brigitte Mohnhaupt oder Gudrun Ensslin haben sich mir bis heute eingeprägt – doch wirklich verstanden habe ich die Zusammenhänge als Siebenjährige natürlich nicht. In meiner Schulzeit wurde dieses Thema im Unterricht nie angesprochen, insofern war dieses Buch für mich ein wichtiges Lehrstück deutscher Geschichte.

Die Autorin beleuchtet darin, wie die Angehörigen von Opfern, aber auch Tätern noch Jahrzehnte nach dem „Deutschen Herbst“ unter den Geschehnissen leiden. Dabei bedient sie sich – aus Respekt vor den echten Opfern – eines fiktiven Terroranschlags, verübt von der Terroristin Martina Müller. 1998 soll diese von Bundespräsident Roman Herzog begnadigt werden, was bei ihrer Tochter Angelika äußerst gemischte Gefühle auslöst. Angelika hat zwar durchaus positive Erinnerungen an ihre Kindheit, als ihre Mutter noch für sie da war. Dass diese aber plötzlich in den Untergrund ging, ihre Tochter bei den Großeltern zurück ließ und später, als sie schon im Gefängnis saß, den Kontakt zu Angelika ganz abbrach, hat diese nie verwunden. Noch viel weniger kann Angelika verstehen, wie ihre liebende Mutter zu einer mehrfachen Mörderin werden konnte. Nun wird Angelika als einzige Angehörige gebeten, sich nach der Haftentlassung um ihre Mutter zu kümmern. Doch wie soll sie diese Aufgabe bewältigen und auch mit ihrer eigenen Familie vereinbaren? Wie werden ihre kleinen Söhne auf eine Mörderin als Großmutter reagieren?

Steffen Seidel ist der einzige Überlebende des Attentats, bei dem damals ein Staatsekretär, dessen Fahrer und zwei Personenschützer ums Leben kamen. Er lag danach monatelang im Koma, seine Erinnerung an die Geschehnisse ist nur bruchstückhaft. Bis heute quält ihn die Frage, ob er, der dritte Personenschützer, das Attentat hätte verhindern können. Und dann sind da auch noch Alex Gschwindner, Sohn des Fahrers, und Michael Werder, Sohn des Staatsekretärs. Beide haben auf jeweils ganz eigene Art unter dem Verlust ihres Vaters zu leiden.

Das Buch springt zwischen den späten 1960ern und 1970ern einerseits und dem Jahr 1998 andererseits hin und her und erzählt dabei Martina Müllers Entwicklung von der naiven Schülerin zur eiskalten Terroristin sowie ihre Verwirrung nach der Haftentlassung und die vorsichtigen Annäherungsversuche zwischen Mutter und Tochter. Schließlich kommt es sogar zur Begegnung zwischen Alex Gschwindner und der Mörderin seines Vaters.

Wie schon oben erwähnt: Ich konnte das Buch kaum mehr weglegen. Und auch, als ich mit der Lektüre fertig war, hat mich das Gelesene noch lange zum Nachdenken angeregt. Einen minimalen Punktabzug gibt es von mir nur deshalb, weil für mich am Ende noch einige Fragen offen bleiben und die Geschichten der Protagonisten meiner Meinung nach noch lange nicht fertig erzählt sind. Andererseits muss man sich natürlich fragen, ob diese Geschichten jemals fertig erzählt werden können. Ein „Happy End“ im Sinne von Friede, Freude, Eierkuchen wäre hier definitiv unpassend gewesen.

Lesemarathon02

Jedem, der diesen Teil der deutschen Geschichte auf durchaus spannende und unterhaltsame Weise nachlesen will, sei dieses Buch wirklich wärmstens empfohlen.

Kürzlich konnte ich die Autorin bei einer Lesung in Vaterstetten sogar live erleben und mir mein Exemplar von „Schlaf der Vernunft“ von ihr signieren lassen.