„Tanz des Vergessens“ | |
von Heidi Rehn | |
Bewertung
★★★★☆
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Verlag | Droemer Knaur |
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Buchform | Taschenbuch, eBook |
Erschienen | Juli 2015 |
Seiten | 560 |
Erhältlich bei | AP Buch Baldham, Buchladen Vaterstetten |
Auf dieses Buch wurden mein Sohn und ich beim Lesemarathon Vaterstetten aufmerksam, denn es spielt zu einer Zeit, die mein Sohn zufällig gerade in der Schule durchnahm. Damit ist er mir ein großes Stück voraus, denn meiner Erinnerung nach stand dieser Abschnitt der deutschen Geschichte nie auf meinem Stundenplan – oder habe ich da was verpasst? Weimarer Republik, Nationalsozialismus… all das haben wir in mehreren Schuljahren immer wieder durchgenommen. Aber die Münchner Räterepublik? Fehlanzeige. Da musste ich nun erstmal im Internet recherchieren, um meine Wissenslücken zu füllen.
Wesentlich spannender gelingt das mit Heidi Rehns „Tanz des Vergessens“. Die Handlung beginnt im Frühjahr 1919. Wochenlang haben in München Kämpfe getobt, die „Weißen“ gegen die „Roten“. Im November 1918 hatte der letzte bayerische König Ludwig III. abdanken müssen, später rief Kurt Eisner den Freistaat Bayern aus, wurde aber schon kurz danach ermordet. Daraufhin spitzten sich in München und ganz Bayern die Machtkämpfe zwischen den Anhängern eines sozialistischen Rätesystems einerseits und denen eines pluralistischen Parlamentarismus andererseits zu. Es kam zu offenen Kämpfen, zu Erschießungen und Plündereien. Wochenlang wagte sich kein Münchner mehr auf die Straße.
Im Mai 1919 scheint endlich Ruhe einzukehren. Die junge Lou, ihr Liebhaber Curd und ihre beiden Freunde Max und Judith freuen sich über den Frühling und darüber, dass zum ersten Mal seit langem wieder Stille herrscht, Vogelstimmen zu hören sind anstelle von Gewehrsalven. Doch ausgerechnet an diesem vermeintlich so friedlichen Tag wird Curd von einem Querschläger tödlich getroffen. Natürlich ist Lou zunächst tief verzweifelt und verstört, doch dann bricht sich ihr unbändiger Lebenswille Bahn, denn Lou hat ihre ganze Kindheit in Krieg und Entbehrung verbracht, nun, so glaubt sie, fängt endlich das wahre Leben an. Sie stürzt sich in das Münchner Nachtleben, tanzt die Erinnerungen und Probleme wie Arbeitslosigkeit, Wohnungsnot und Inflation einfach weg. Ihr Weg führt sie in die vermeintlich bessere Gesellschaft und zu einem älteren Liebhaber, der sie in der Öffentlichkeit als seine Adoptivtochter ausgibt.
Im Gegensatz zu Lou hat Judith, eine jüdische Journalistin aus Österreich, bereits feine Antennen für das Unheil, das sich schon in den frühen 1920er Jahren ankündigt. Nationalsozialistische Schlägertrupps überfallen den jüdischen Boxclub, in dem sie trainiert, und auch sonst sieht sie sich immer häufiger Anfeindungen ausgesetzt. In den Münchner Salons, wo die Damen der Gesellschaft sich gegenseitig darin überbieten, mit immer neuen Attraktionen aufzuwarten, wird es plötzlich Mode, einen gewissen Österreicher namens Adolf Hitler einzuladen und zu fördern.
Judith sieht bald keinen anderen Ausweg mehr, als München in Richtung Berlin zu verlassen. Und als Lous Liebhaber vor dem finanziellen Ruin steht und sie fallenlässt wie eine heiße Kartoffel, bleibt auch ihr nichts anderes mehr übrig, als München den Rücken zu kehren und bei Judith in Berlin Unterschlupf zu suchen. Dort treffen die beiden auch Max wieder, der sich als Schauspieler hier bessere Chancen erhofft. Lou ist verunsichert von den Gefühlen, die sie für Max empfindet. Ist es nur die Erinnerung an Curd, die durch Max wieder lebendig wird? Oder ist da noch mehr? Doch dann taucht eine gewisse Ilka auf, die mit Max mehr zu verbinden scheint, als es Lou lieb ist. Und plötzlich hat Lou eine Pistole in der Hand…
Die Geschichte hat für meinen Geschmack einige Längen, die sich noch gut hätten straffen lassen. Doch alles in allem bin ich gerne eingetaucht in diese Epoche, die dank des authenthischen Sprachstils und der gut recherchierten Beschreibungen für mich sehr lebendig wurde. Besonders schön finde ich, dass die Autorin Heidi Rehn, die in München Geschichte, Germanistik, BWL und Kommunikationswissenschaften studiert hat, für Interessierte selbst auch Streifzüge auf den Spuren ihrer Romanheldinnen anbietet. Im Juni diesen Jahres konnte ich daran teilnehmen und habe dabei viel Wissenswertes über diesen Teil der Münchner Geschichte erfahren.
Hier einige Impressionen des Rundgangs: Links ein Haus in der Kaulbachstraße. In diesem oder einem sehr ähnlichen Haus könnten Lou und Curd 1919 gelebt haben. Rechts das Café Luitpold an der Brienner Straße. Noch heute ein sehr elegantes und sehenswertes Café, war es in früheren Jahren ein riesengroßer Vergnügungstempel mit Tanzsälen und Bars. An diese glanzvollen Zeiten erinnert noch heute ein Museum im Obergeschoss und ein Kapitel auf der Webseite des Cafés.
Die nächsten beiden Bilder zeigen prachtvolle Gebäude am Karolinenplatz. Heute sind hier Banken und Botschaften untergebracht, aber im Roman residiert hier die feine Münchner Gesellschaft – eben jene, die den zunächst eher unscheinbaren Hitler förderte und damit einen wesentlichen Beitrag zu den schrecklichen Geschehnissen leistete, die sich nur wenige Jahre später zutragen sollten.