Das Glück umarmen

Erstellt am 25.4.18. Kategorie: Buchrezensionen
„Das Glück umarmen“
von Nicole Walter
Bewertung
★★★★★
Verlag Droemer Knaur
Buchform Taschenbuch, eBook
Erschienen Januar 2018
Seiten 368 Seiten als Taschenbuch
Erhältlich beiAP Buch Baldham, Buchladen Vaterstetten

Durch einen Unfall treffen zwei völlig unterschiedliche Menschen aufeinander: Der rastlose Leon, ein Karrieretyp, der nach dem Motto „immer höher, immer weiter“ lebt, und die ruhige verträumte Johanna, die meditiert und Atemübungen macht. Auf den ersten Blick, so scheint es, können die beiden nichts miteinander anfangen, doch Johanna verliebt sich sofort in Leon. Die Umstände machen es erforderlich, dass Leon nach seinem Unfall einige Wochen bei Johanna wohnt. Die teilt ihr Zuhause mit ihrer Großmutter Marceline und mit Kio, dem nigerianischen Flüchtlingsjungen. Damit wird Leon in eine Welt katapultiert, die so ganz anders ist als die seine. Doch Johanna macht sich beharrlich an die Aufgabe, Leons Panzer zu durchdringen, denn sie ahnt: Darunter steckt ein sensibler Mensch auf der Flucht vor sich selbst.

Der Roman behandelt gleich mehrere ernste und wichtige Themen: Da ist zum einen das Thema Achtsamkeit, das in unserer schnelllebigen Zeit immer mehr an Bedeutung gewinnt, gleichzeitig aber auch oft als Spinnerei oder Esoterik belächelt wird, nicht nur durch die Romanfigur Leon.

Mit Kio, dem unbegleiteten minderjährigen Flüchtling ohne Status, wird auch die Flüchtlingsproblematik angesprochen: Durch Kio erfährt der Leser von den vielfältigen Gründen, die dafür verantwortlich sein können, dass jemand freiwillig seine Heimat verlässt und sich auf eine gefahrvolle Flucht mit ungewissem Ausgang begibt. In Deutschland angekommen, wird Kio nicht überall mit offenen Armen empfangen. Zwar gibt es da den katholischen Kirchenchor von Truchtlaching im Chiemgau, wo die Geschichte spielt. Doch nicht jedem Kirchenbesucher passt es, dass da plötzlich ein dunkelhäutiger Knabe mitsingt, auch wenn seine Stimme wahrlich engelsgleich ist. Die Szene, in der – Achtung, kleiner Spoiler! – der Pfarrer eine flammende Predigt hält und die anonymen Drohungen gegen Kio anprangert, gehört zu meinen Lieblingsszenen im Buch, da hatte ich beim Lesen wahrlich Gänsehaut.

Das dritte Thema, das angesprochen wird, ist die Krankheit Alzheimer bzw. Altersdemenz. Marcelines immer häufiger werdende Ausfälle werden sehr einfühlsam geschildert, ebenso wie Johannas Zerrissenheit, ihre Sorge um Marceline, ihre Entschlossenheit, der Großmutter ein Pflegeheim zu ersparen, hingegen aber auch ihr Wunsch, unabhängig zu sein, zu reisen und die Welt zu entdecken. Als einziges Kind von mittlerweile über 80jährigen Eltern konnte ich mich beim Lesen sehr gut in Johanna hineinversetzen.

Dieser Roman ist kein Pageturner, der so spannend ist, dass man ihn nicht mehr weglegen kann. Vielmehr habe ich dieses Buch sozusagen in Häppchen genossen und das Gelesene dann erstmal wirken lassen, bevor ich weitergelesen habe. Es ist definitiv ein Roman der leisen Töne, eine Geschichte, die zum Nachdenken anregt, oft aber auch zum Schmunzeln, und so manches Mal wollte ich die Protagonisten einfach nur tröstend in den Arm nehmen. Das Thema Achtsamkeit hat mich intuitiv angesprochen und ich habe mich schon dabei ertappt, dass ich versuche, bewusster zu atmen, den Blick für meine Umwelt zu schärfen und meine Gedanken fließen zu lassen. Definitiv ein Roman, der noch lange Zeit nachwirken wird.

Ende Januar durfte ich die Autorin Nicole Walter bei einer Lesung in Unterhaching bei München erleben. Hier einige Fotos: