„Kastanienjahre“ | |
von Anja Baumheier | |
Bewertung
★★★★★
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Verlag | Wunderlich |
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Buchform | gebunden, eBook |
Erschienen | August 2019 |
Seiten | 416 |
Erhältlich bei | AP Buch Baldham, Buchladen Vaterstetten |
Vor eineinhalb Jahren habe ich „Kranichland“, den Erstlingsroman von Anja Baumheier, förmlich verschlungen. Jetzt hat die Autorin mit „Kastanienjahre“ den Nachfolger vorgelegt und ich war gespannt, ob dieser an den Erstling heranreichen kann. Soviel vorneweg: Meine Erwartungen wurden sogar noch übertroffen.
Hauptfigur des Romans ist Elise Petersen, mittlerweile 58, Schneiderin und Inhaberin einer Boutique in Paris. Doch aufgewachsen ist sie in Peleroich, einem kleinen (fiktiven) Ort an der mecklenburgischen Ostseeküste, mit einer markanten Kastanie in der Dorfmitte. Dort verbrachte sie zur DDR-Zeit ihre Kindheit und auch noch etliche Jahre nach der Wende. Nun erfährt sie, dass der mittlerweile verlassene und heruntergekommene Ort abgerissen werden soll, um Platz zu schaffen für einen Autobahnzubringer. Zeitgleich erhält sie anonyme Briefe, die sie zurück nach Peleroich beordern, weil sie dort endlich die Wahrheit über den vermeintlichen Unfalltod ihres Vaters und das Verschwinden ihres Geliebten Jakob erfahren soll.
Elise macht sich auf die Reise und parallel dazu wird in Rückblicken die Geschichte ihrer Familie erzählt, beginnend im Jahr 1950, als sich die Kinder Karl und Christa in der Dorfschule von Peleroich kennen- und lieben lernen. Die beiden heiraten, 1960 wird Elise geboren. Sie wächst auf in einer behüteten Dorfgemeinschaft, zu der neben ihren Eltern der Gastwirt Friedrich und dessen Sohn Henning gehören, der Dorfpfarrer Otto und dessen Enkel Jakob, dazu die Großeltern, der Bäcker, die Metzgerin, der Dorfschullehrer, Elises Freundin Marina und der Bürgermeister Ludwig Lehmann. Letzterer macht der Dorfgemeinschaft immer wieder Schwierigkeiten, weil er ein allzu linientreuer Parteigänger ist. Das DDR-Regime bekommen die Bewohner auf vielfältige Weise zu spüren, doch bei allen Problemen gibt es im Dorf doch einen ganz wunderbaren Zusammenhalt, alle helfen einander, wenn es drauf ankommt, wenn jemand krank wird oder Kummer hat.
Elise selbst wächst heran und verliebt sich in Henning, ihren Freund aus Kindertagen, der ihr immer wie ein Fels in der Brandung zur Seite steht. Doch da ist auch noch Jakob, der Künstler, der ganz andere Saiten in ihr zum Schwingen bringt. Und dann kommt jener schicksalhafte Tag, an dem Elises Vater ums Leben kommt und Jakob für immer verschwindet.
Der Mauerfall und die Wende bringen dem Dorf schließlich nur wenig Gutes: Kein Mensch kauft mehr in den alteingesessenen Geschäften ein, die nach und nach schließen müssen. Die Jüngeren ziehen weg, die Dorfgemeinschaft zerfällt. Auch Elise, deren große Leidenschaft die Mode ist, stellt die Weichen für ihr Leben neu und verlässt 1997 Peleroich in Richtung Paris. Erst 21 Jahre später kehrt sie zurück und erlebt dabei ein Wechselbad der Gefühle.
Diese Geschichte hat mich von Anfang an in ihren Bann gezogen. Das Dorf Peleroich konnte ich mir bildlich vorstellen und die Bewohner sind mir sofort ans Herz gewachsen. So habe ich mit ihnen mitgelitten und auch einige Tränen vergossen, wenn einer von ihnen seine Augen für immer geschlossen hat. Das Buch schildert sehr anschaulich die Zeit der DDR, aber auch die sehr schwierige Zeit nach dem Mauerfall auf eine sehr einfühlsame Art, die mir als „Wessi“ mal eine ganz andere Perspektive aufzeigt. Kein Wunder, schließlich hat die Autorin, die 1979 geboren ist, ihre Kindheit selbst in der DDR verbracht.
Wie sie auf die Idee zu diesem Roman gekommen ist, schildert sie in einem Interview so:
„Der Weg zu meinem Roman „Kastanienjahre“ begann mit einer Stadt- und endete mit einer Landflucht. Ich versuche, so oft wie möglich der lärmenden Kakophonie und dem Grau der Großstadt Berlin, in der ich lebe, zu entfliehen. Ruhe, Entspannung, ein See und ganz, ganz viel Grün, danach war ich auf der Suche. Nach einer neuen Geschichte zunächst nicht.
Mit dem Auto führt der Weg ins Brandenburger Umland vorbei an unzähligen Dörfern. Viele davon scheinen kaum bewohnt, andere ganz und gar verlassen. Verfallene Häuser, verwaiste Bushaltestellen, einsame Dorfplätze, baufällige Kirchen und verwitterte Gaststuben. Wie war das passiert? Wie sah es hier vor der Wende aus? Wo sind die Menschen hin? Was wird mit den Dörfern geschehen? All diese Fragen waren Ausgangspunkt für die Geschichte von Peleroich. Ich wollte zeigen, was passiert war, wer hier gewohnt und geliebt, gelitten und sich wohl gefühlt hatte. Ein kleiner Film im Kopf begann sich zu formieren, eine neue Romanidee hatte mich gefunden. Peleroich war aus der Taufe gehoben.
(…)
Um nicht nur aus der Fantasie zu schreiben, habe ich mir alte und neue, echte „Dörfler“ gesucht, mich mit ihnen getroffen, sie erzählen lassen, zugehört. In ihren Erzählungen, und das hat mich sehr berührt, schwang Wehmut mit. Wehmut, die nicht mit dem Nachtrauern alter Zeiten, sondern mit dem Verlust eines Gefühls zu tun hatte. Welches, konnte ich nicht genau benennen. Zusammengehörigkeit, Zugehörigkeit, Wohlbefinden, Sicherheit, Struktur, Hoffnung… Ich kann es noch immer nicht genau benennen. Jeder einzelne der befragten Zeitzeugen würde sicherlich anders antworten.“
(Zitat mit freundlicher Genehmigung des Rowohlt-Verlages).
Fazit: Ein unglaublich spannender, eindrücklicher Roman über das Leben in der DDR, eine sehr empfehlenswerte Lektüre nicht nur zum 30. Jubiläum des Mauerfalls, die noch lange nachwirkt. Definitiv eines meiner Lieblingsbücher 2019.