„Die Erfindung des Countdowns“ | |
von Daniel Mellem | |
Bewertung
★★★★☆
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Verlag | dtv |
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Buchform | gebunden, eBook |
Erschienen | September 2020 |
Seiten | 288 |
Erhältlich bei | AP Buch Baldham, Buchladen Vaterstetten |
Während unseres Usedom-Urlaubs waren wir auch im historisch-technischen Museum Peenemünde. Dort wird die Geschichte der ehemaligen Heeresversuchsanstalt in der Nazi-Zeit aufgearbeitet und der Besuch hat mich sehr beeindruckt. Besonders gelungen fand ich die Auseinandersetzung mit der Frage nach der Ethik der Wissenschaft. Genau darum geht es auch in diesem Roman, der das Leben des Physikers und Raketenforschers Hermann Oberth erzählt. Auch er hat zur Zeit des Nationalsozialismus einige Zeit in Peenemünde gearbeitet, schon allein deshalb war ich neugierig auf dieses Buch.
Erzählt wird Oberths gesamtes Leben in elf Kapiteln, die wie bei einem Countdown rückwärts gezählt werden, also von Zehn bis Null. Der 1894 geborene Oberth interessiert sich schon als Kind für den Weltraum, befeuert durch das Fernrohr des Vaters und das Buch „Reise um den Mond“ von Jules Verne, das ihm die Mutter schenkt. In der Schule tut sich der begabte Junge dennoch schwer, denn (Zitat): „Die Lehrer kannten nichts als altgriechische Vokabeln und antike Jahreszahlen. Sie alle wollten nur wissen, was in der Vergangenheit einmal gewesen war. Niemanden hier schien zu interessieren, was die Zukunft bereithielt.“
Bald schon stellt er selbst erste Überlegungen und Berechnungen an. Tief geprägt wird er zudem durch den Ersten Weltkrieg, in dem er seinen geliebten jüngeren Bruder verliert. Und so wächst in ihm der Wunsch, eine Rakete zu bauen: „Seine Rakete konnte nicht nur in den Weltraum fliegen. Sie konnte auch einen Krieg entscheiden.“ (Zitat). Er erträgt den Gedanken nicht, dass die Mächtigen sicher daheim in ihren Sesseln sitzen, während die Soldaten in den Schützengräben ihr Leben lassen müssen. Seine Hoffnung ist, eine Rakete zu erfinden, die ein schnelles Ende des Krieges herbeiführen kann.
Gegen den Widerstand seines Vaters beginnt er ein Physikstudium in Göttingen. Dort wird er, der aus Siebenbürgen stammt, zu seinem ständigen Ärgernis als Rumäne angesehen, während er selbst sich als Volksdeutscher sieht. Mehr noch, mit seinen Forschungen findet er bei den Professoren kein Gehör. Das ändert sich erst, als der Filmemacher Fritz Lang auf ihn aufmerksam wird. Für die Premiere von dessen Film „Frau im Mond“ soll Oberth eine Rakete bauen. Dabei lernt Oberth auch den Studenten Wernher von Braun kennen, der Oberth später als seinen Lehrmeister bezeichnet.
Als später die Russen um Oberth und seine Kenntnisse werben, lehnt er deren Angebot ab und biedert sich den Nationalsozialisten an: „Ich will die Gefahr aufzeigen. Für uns Deutsche! Das einzige Mittel, sich gegen die Rakete zu verteidigen, ist, die Rakete selbst zu besitzen.“ (Zitat). 1941 schließlich holt Wernher von Braun ihn nach Peenemünde, wo er am Bau der Vergeltungswaffe V2 mitwirkt. Dabei bleiben ihm natürlich auch die vielen Zwangsarbeiter und KZ-Häftlinge nicht verborgen, die dort eingesetzt werden. Außerdem wurmt es ihn, dass von Braun ihn mittlerweile überflügelt hat, wo er doch überzeugt ist, selbst alles viel besser zu wissen.
Oberth verliert zwei seiner vier Kinder im Krieg. Auch wenn er zuvor nur selten daheim war und oft keinen richtigen Zugang zu seinen Kindern hatte, trifft ihn dieser Verlust doch hart und er fragt sich: „Wie konnte etwas, das die Wissenschaft, die pure Vernunft, erschaffen hatte, solch eine barbarische Wirkung entfalten?“ (Zitat).
Nach dem Krieg holt von Braun ihn nach Amerika, wo Oberth eine Weile in Huntsville, Alabama, im Raketenentwicklungszentrum tätig ist. Seinen Ruhestand verbringt er in Deutschland, wo er noch einmal in die Kritik gerät, weil er einem Verein nahesteht, der NS-Täter unterstützt. Oberth stirbt 1989 mit 95 Jahren in Nürnberg.
Dieses Buch hat mich sehr nachdenklich zurückgelassen. Oberth ist kein sympathischer Protagonist, ganz im Gegenteil. Dennoch tat er mir über weite Strecken der Lektüre einfach nur leid. Dem Autor Daniel Mellem, selbst Physiker, ist es gelungen, diese widersprüchliche Person in all ihrer Ambivalenz einfühlsam darzustellen. Auch wenn sich in dieser Geschichte natürlich vieles um Technik dreht, kann auch ein Laie wie ich den geschilderten Überlegungen, Versuchen und Berechnungen gut folgen. Manches wurde mir jedoch zu schnell erzählt, ein solch langes ereignisreiches Leben passt eben nicht in nur elf Kapitel, da muss notwendigerweise einiges übersprungen und weggelassen werden. Auch hätte ich mir mehr kritische Auseinandersetzung gewünscht. Die Rolle der Kritikerin übernimmt im Buch Oberths Frau Tilla, doch vieles bleibt nur angedeutet. Sehr erhellend fand ich diesbezüglich das Nachwort des Autors.
Am Ende bleibt für mich, wie schon nach dem Besuch in Peenemünde, die Frage nach der Ethik der Wissenschaft, nach dem Zwiespalt zwischen Forschung und Missbrauch.