Wilde Jahre

Erstellt am 10.11.20. Kategorie: Buchrezensionen
„Wilde Jahre“
von Astrid Ruppert
Bewertung
★★★★★
Verlag dtv
Buchform Taschenbuch, eBook
Erschienen Oktober 2020
Seiten 457
Erhältlich beiAP Buch Baldham, Buchladen Vaterstetten

Vor einem Jahr habe ich Astrid Rupperts Roman „Leuchtende Tage“ gelesen, den Auftakt zu einer Trilogie, die vier Generationen von Frauen über ein ganzes Jahrhundert hinweg begleitet. Den Anfang machte die 1888 geborene Lisette, parallel dazu wird die Geschichte ihrer Urenkelin Maya im Jahre 2006 erzählt. Ganz automatisch nahm ich an, dass die Geschichte in „Wilde Jahre“ nun mit Charlotte, Lisettes Tochter, weitergehen würde, doch das war nicht der Fall, was mich anfangs irritiert hat. Ich habe tatsächlich nochmal in „Leuchtende Tage“ nachgelesen, doch dieses Buch endet 1935 und „Wilde Jahre“ setzt 1949 ein und erzählt die Geschichte von Paula, Charlottes Tochter und Mayas Mutter.

Gemeinsam mit ihren Eltern wächst Paula in einem Bauerndorf auf, fernab der nächsten großen Stadt. Schon als Jugendliche wird es ihr dort zu eng, sie sehnt sich nach der großen weiten Welt und will auf keinen Fall irgendeinen Bauern heiraten, um mit ihm den elterlichen Hof zu übernehmen. Ihre Eltern lieben Paula, können das aber nicht zeigen, vergeblich sehnt sich das junge Mädchen nach Anerkennung und Verständnis. Ihre große Liebe gehört der Musik, sie ist eine begnadete Sängerin, doch bei ihren Eltern erntet sie dafür keine Bewunderung, ganz im Gegenteil: Singt sie in der Kirche zu laut, wird sie gerügt: nur nicht auffallen, lautet die Devise. Ihr Vater nennt sie „Fräulein Nimmersatt“, nur ihre Großmutter Lisette bestärkt sie in ihren hochfliegenden Plänen (Zitat): „Du bist die, die du sein willst. Egal, was für Gene du hast.“

Paulas Weg führt sie nach Marburg und von dort weiter nach England, wohin sie ihrer großen Liebe folgt. Gemeinsam machen die beiden dort Musik, tauchen ein in das Lebensgefühl des Swinging London der 1960er und 1970er Jahre und wenn es nach Paula ginge, dann könnte das Leben immer so weiter gehen, doch ihr Freund sieht das anders. Als die Beziehung bereits zerbrochen ist, entdeckt Paula, dass sie schwanger ist. Paula beschließt, ihre Tochter allein aufzuziehen und dabei alles anders zu machen als ihre eigene Mutter.

Im Jahre 2006 forscht Maya noch immer vergeblich nach ihrem Vater, über den sich Paula hartnäckig ausschweigt. Erst ein Hinweis von Charlotte bringt Maya auf die richtige Spur. Sie reist nach England und begibt sich auf eine Reise in die Vergangenheit ihrer Mutter, die zugleich auch eine Reise zu sich selbst wird. Bisher hat sie immer darunter gelitten, nicht so stark und mutig zu sein wie ihre Mutter. Wo Paula rastlos und freiheitsliebend war, sehnte Maya sich nach einem normalen Alltag. Zitat: „Sehnte man sich nach Freiheit, wenn man ein Nest hatte, und sehnte man sich nach einem Nest, wenn man frei war?“

Dieser Roman ist eine faszinierende Betrachtung von komplizierten Mutter-Tochter-Beziehungen mit all ihren Spannungen und Erwartungen. Zugleich erweckt er das ganz besondere Lebensgefühl der 1960er und 1970er wieder zum Leben. Ich sah die Schlaghosen und bunten Hemden, die langen Haare und Bärte direkt vor mir, hörte die Musik der Beatles, der Rolling Stones und vieler anderer Musiker dieser Zeit. Auch die politische Situation dieser Ära wird beleuchtet, die Aufarbeitung des Krieges sowohl in Deutschland als auch in England. Alles zusammen ergibt einen unheimlich spannenden, mitreißenden Roman, der mich von Anfang an in seinen Bann gezogen hat und der mich beim Lesen oftmals so gefesselt hat, dass ich alles um mich herum vergessen habe. Es gab etliche Szenen, bei denen ich Tränen vergossen habe, weil ich so gerührt war oder mit einer der Figuren so mitgelitten habe.

Am Ende blieb nur eine Frage offen: Was ist eigentlich mit Charlotte? Was hat sie in den Jahren zwischen Band 1 und Band 2 erlebt? Was ist ihre Geschichte? Band 2 endet diesbezüglich mit einem Cliffhanger, deshalb warte ich jetzt schon sehnsüchtig auf Band 3, der leider erst in einem Jahr erscheinen wird. So lange muss ich mich nun wohl oder übel noch gedulden.

Wer in „Wilde Jahre“ gerne mal hineinschmökern möchte, findet auf der Webseite des dtv-Verlages eine Leseprobe. Auch eine Playlist zum Roman gibt es.