Ein Ort, der sich Zuhause nennt

Erstellt am 6.12.21. Kategorie: Buchrezensionen
„Ein Ort, der sich Zuhause nennt“
von Astrid Ruppert
Bewertung
★★★★★
Verlag dtv
Buchform Taschenbuch, eBook
Erschienen November 2021
Seiten 476
Erhältlich beiAP Buch Baldham, Buchladen Vaterstetten

Seit einem Jahr habe ich voller Ungeduld auf dieses Buch gewartet, ist es doch der Abschluss der Trilogie um die Frauen der Familie Winter – eine Buchreihe, die mit „Leuchtende Tage“ begann und die Geschichte der Urgroßmutter Lisette in den Jahren 1888 bis 1935 erzählte. Im zweiten Teil, „Wilde Jahre“ gab es einen Zeitsprung und es ging um Lisettes Enkelin Paula von 1949 bis hinein in die wilden 1970er. Bindeglied in beiden Büchern war Tochter Maya, die 2007 anfing, die Geschichte ihrer Vorfahrinnen zu erforschen. Völlig im Dunkeln blieb bis dahin aber die Geschichte von Lisettes Tochter Charlotte, Band 2 endet dahingehend mit einem Mega-Cliffhanger, so dass ich wirklich voller Spannung auf das Erscheinen von Band 3 wartete.

Ich begann nun also sofort zu lesen, konnte das Buch gar nicht mehr weglesen, hatte zeitgleich oft genug Angst, weiterzulesen und war traurig, als die Geschichte zu Ende war, so sehr hat mich Charlottes Geschichte mitgenommen. Und im Nachhinein kann ich sagen: Es macht absolut Sinn, dass die Geschichte der drei Winter-Frauen nicht chronologisch dem Alter nach erzählt wurde, getreu dem Motto: Das Beste zum Schluss.

Denn Charlottes Geschichte geht unter die Haut. Erzählt wird ihr Leben ab dem Jahr 1927, als sie zusammen mit ihrer Mutter Lisette und ihrem älteren Bruder Henri in dem Weindorf Rauenthal bei Wiesbaden lebt. Lisette leidet noch immer sehr unter dem Verlust ihrer großen Liebe Emile, der im Großen Krieg gefallen ist. An solchen dunklen Tagen, wenn Lisette in tiefer Depression versinkt, ist es an Charlotte, die alle nur Lotte nennen, alles am Laufen zu halten. Sie kauft ein, kocht und erlernt schließlich auch das Schneiderhandwerk, um Lisette in ihrem Atelier helfen zu können.

Doch  es brechen schlimme Zeiten an: Während Henri sich immer mehr für die Nationalsozialisten begeistert, sieht Lisette diese eher skeptisch und auch Lotte kann nicht verstehen, warum sie plötzlich ihre Freunde, die jüdische Familie Simon, meiden soll und nicht mehr in deren Gemischtwarenladen einkaufen darf. Je älter Lotte wird, umso mehr hinterfragt sie die Parolen. Dann verliebt sie sich in Paul kommt und durch ihn zu einer Gruppe von Widerstandskämpfern, die im Untergrund helfen, Menschen aus dem Land zu schmuggeln. Als Schneiderin versteckt Lotte gefälschte Pässe in Mantelsäumen und trägt auf ihre Weise dazu bei, Leben zu retten.

Als Charlotte im Jahr 2007 endlich ihr Schweigen bricht und aus ihrer Jugend erzählt, erkennen ihre Tochter Paula und ihre Enkelin Maya, dass sie eine wahre Heldin war. Doch was ist passiert, dass aus der energischen tatkräftigen Lotte die schweigsame zurückhaltende Charlotte wurde? Eine Frau, die nie Gefühle zeigte, worunter vor allem Paula ihr Leben lang litt? Erst nach und nach wird die ganze Tragödie von Lottes Leben aufgedeckt und sorgt bei ihren Nachfahrinnen für so manche neue Erkenntnis.

Die Geschichte wird wie die Vorgängerbände auf zwei Zeitebenen erzählt: Neben Lottes Geschichte in den 1920er- bis 1940er-Jahren gibt es noch das Jahr 2007, das mal aus Paulas, mal aus Mayas Sicht geschildert wird. Während vor allem in „Wilde Jahre“ beide Zeitstränge gewissermaßen gleichberechtigt erzählt wurden, so liegt in „Ein Ort, der sich Zuhause nennt“ der Fokus doch eindeutig auf der Vergangenheit und Lottes Schicksal, das mich von Seite zu Seite mehr bewegt und aufgewühlt hat. Ich habe mit ihr gelitten, gebangt, gehofft, verzweifelt… die ganze Bandbreite an Gefühlen war da und dazu noch eine große Demut und Dankbarkeit, dass diese schrecklichen Zeiten vorbei sind und wir heute in Frieden leben dürfen.

Dieser Roman hat mich definitiv aufgewühlt und auch nach der Lektüre noch lange beschäftigt und gehört damit eindeutig zu meinen Lesehighlights 2021 und wird mir noch lange im Gedächtnis bleiben. Ich kann aber nur dringend dazu raten, die drei Romane der Reihe nach zu lesen, weil sich nur dann die Entwicklung der Figuren vollkommen erschließt. Auf jeden Fall eine ganz, ganz eindringliche Leseempfehlung!