Und wenn wir wieder tanzen

Erstellt am 11.2.22. Kategorie: Buchrezensionen
„Und wenn wir wieder tanzen“
von Kerstin Sgonina
Bewertung
★★★★★
Verlag Wunderlich
Buchform gebunden, eBook
Erschienen Februar 2022
Seiten 464
Erhältlich beiAP Buch Baldham, Buchladen Vaterstetten

In diesen Tagen jährt sich zum 60. Mal die verheerende Flutkatastrophe von 1962, die in Hamburg und ganz Norddeutschland schwere Schäden angerichtet hat. Insgesamt waren damals 340 Todesopfer zu beklagen, davon 315 allein in Hamburg. Vor diesen Hintergrund spielt ein Erzählstrang dieses Romans:

Marie Hansen lebt in ärmlichen Verhältnissen im Hamburger Stadtteil Wilhelmsburg, der von der Sturmflut besonders schwer getroffen wird. Marie überlebt die Katastrophe, aber sie verliert das Wenige, was sie besaß. Vorübergehend wird sie bei Effie in Sankt Pauli einquartiert. Die ältere Dame ist ruppig, doch Marie ahnt bald, dass sich unter der harten Schale ein weicher Kern verbirgt – und eine große Tragödie, unter der Effie stumm leidet.

Nach und nach kommt heraus, dass Effie ein Tanzlokal in der Speicherstadt besaß, das „Danzhus“, das jedoch bei der Sturmflut schwer beschädigt wurde. Kurzerhand beschließt Marie, das Lokal aufzuräumen und wieder zu eröffnen, doch Effie zögert, will nichts verändern und Marie begreift nicht, warum. Erst allmählich erfährt sie von Effies Schicksal, das diese vor rund 50 Jahren vor einem gewalttätigen Ehemann fliehen ließ. Fortan hat Effie ihre kleine Tochter Helly alleine aufgezogen. Und das „Danzhus“ spielt dabei eine zentrale Rolle, war über Jahrzehnte hinweg Sehnsuchts- und Zufluchtsort.

Der Roman spielt auf zwei Zeitebenen: Da ist einmal das Jahr 1962, beinahe Tag für Tag erzählt aus Maries Sicht, und dann Effies Geschichte, die von 1910 an erzählt wird und sich teils mit großen Zeitsprüngen bis zum Jahr 1946 erstreckt. Bei beiden Erzählsträngen konnte ich von der ersten Seite an mitfiebern. Marie als Protagonistin war mir auf Anhieb sympathisch. Sie ist arm und lebt ein bescheidenes Dasein als Zimmermädchen, das manche Ungerechtigkeit erdulden muss. Aber nie verliert sie ihren Lebensmut und ihre optimistische, zupackende Art. Ihre Arbeit im Hotel Atlantic erledigt sie stets hüftenschwingend und mit einem Lied auf den Lippen. Und selbst in der größten Not, als ihr durch die Sturmflut alles genommen wird, verzweifelt sie nicht an ihrem eigenen Schicksal, sondern sorgt sich in erster Linie um ihre Freunde und Nachbarn, deren Verbleib ungewiss ist.

Effie hingegen ist anfangs eine schüchterne, verängstigte junge Frau, die sich aber zur Löwin entwickelt, wenn es darum geht, ihre kleine Tochter zu beschützen. Das lässt sie auch durchhalten, als sie kurz vor Beginn des Ersten Weltkriegs als Alleinerziehende in Hamburg ums Überleben kämpfen muss. Durch die vielen Schicksalsschläge, die sie erleiden muss, entwickelt sie sich zu einer vermeintlich harten, ruppigen Frau, die sich aber ihr großes Herz bewahrt hat.

Abgesehen davon, dass dieser Roman für sich genommen schon sehr bewegend war, hat er sich auch wunderbar mit zwei Lektüren ergänzt, die ich erst kürzlich gelesen habe: „Die Hafenärztin“ von Henrike Engel spielt in Hamburg im Jahr 1910. Dort hat die Straße Dovenfleet eine zentrale Bedeutung und wie es der Zufall will, ist das „Danzhus“ ebenfalls hier angesiedelt – und 2021 habe ich einige Tage in einem Hotel übernachtet, das an dieser Straße liegt! In der „Hafenärztin“ geht es auch viel um das Thema Frauenrechte, das in diesem Roman ebenfalls eine wichtige Rolle spielt.

Als zweites wäre da noch „Unser Weg nach morgen“ von Jana Voosen zu nennen. Darin geht es um die Hamburger „Swing Kids“ während der Nazizeit – und auch diese kommen im Buch „Und wenn wir wieder tanzen“ vor, so dass sich hier für mich gewissermaßen ein Kreis geschlossen hat – wie übrigens auch für Marie und Effie im Roman.

Sehr, sehr eindrücklich geschildert wurde im Buch die schlimme Sturmflut vom 16./17. Februar 1962. Besonders beklemmend fand ich die Lektüre auch angesichts der schlimmen Hochwasserkatastrophe von 2021, die so verheerende Schäden angerichtet hat und hierzulande heute als die schlimmste Flutkatastrophe seit 1962 gilt, gemessen an der Opferzahl. Ein weiterer Roman, der während der Sturmflut 1962 spielt, ist übrigens „Sturmherz“ von Corinna Bomann, den ich vor fünf Jahren in der Hörbuchfassung gehört habe und der mir auch noch sehr eindrücklich in Erinnerung ist.

Fazit: „Und wenn wir wieder tanzen“ ist ein sehr bewegender historischer Roman, der mir sicher noch lange im Gedächtnis bleiben wird.