Die Sammlerin der verlorenen Wörter

Erstellt am 8.4.22. Kategorie: Buchrezensionen
„Die Sammlerin der verlorenen Wörter“
von Pip Williams
Bewertung
★★★☆☆
Verlag Diana
Buchform gebunden, eBook
Erschienen April 2022
Seiten 528
Erhältlich beiAP Buch Baldham, Buchladen Vaterstetten

Das „Oxford English Dictionary“ (OED) dürfte wohl das bekannteste Wörterbuch der Welt sein. Dieser Roman erzählt von seiner Entstehungsgeschichte, beginnend im Jahr 1886 (Prolog) bis hin zum Jahr 1989 (Epilog), wobei die eigentliche Geschichte zwischen 1887 und 1928 spielt.

Dreh- und Angelpunkt des Romans ist das Skriptorium, eigentlich eine Wellblechhütte im Garten des Anwesens von James Murray, dem Herausgeber des OED, in Oxford. Hier arbeiten einige Männer, Lexikographen, an diesem neuen Wörterbuch, indem sie Wörter sammeln, Bedeutungsvarianten und belegende Zitate dazu notieren. Einer der Lexikographen ist der Witwer Henry Nicoll, der seine kleine Tochter Esme mit zur Arbeit bringen darf. Als kleines Mädchen sitzt Esme unter dem Sortiertisch, an dem die Männer arbeiten. Und fällt einmal ein Belegzettel unter den Tisch, liest Esme begierig, was darauf steht. So stößt sie eines Tages auf den Begriff „bondmaid“, der eine Sklavin oder Leibeigene bezeichnet. Das Wort schockiert Esme und im Gespräch mit Lizzie, dem Dienstmädchen der Familie Murray, das sich oft um Esme kümmert, begreift sie allmählich, dass es gesellschaftliche und wirtschaftliche Unterschiede zwischen den Menschen gibt – und auch zwischen Männern und Frauen.

Esme wächst heran, das Skriptorium bleibt ihr liebster Aufenthaltsort und allmählich darf sie dort ganz offiziell mitarbeiten. Heimlich sammelt sie Belegzettel von Wörtern, die von den Männern als nicht würdig für das OED betrachtet werden, und sie beginnt, selbst Wörter zu sammeln. Denn sie entdeckt, dass das einfache Volk eine ganz andere Sprache spricht als diejenige, die im Wörterbuch festgehalten wird. Doch sind diese Wörter weniger wert, nur weil sie nicht aufgeschrieben werden? Esme lernt die Schauspielerin Tilda kennen und kommt über sie mit der Frauenbewegung der Suffragetten in Berührung, die ihr weitere Denkanstöße für ihre eigene Wörtersammlung gibt.

Der Roman erzählt Esmes (fiktive) Geschichte über etliche Jahrzehnte hinweg, eingebunden in die reale Entstehungsgeschichte des OED mitsamt historisch belegter Personen und eingebettet in den historischen Kontext der Suffragetten-Bewegung und der Gräuel des Ersten Weltkriegs. Doch obwohl Esme zahlreiche tragische Schicksalsschläge erleiden muss, blieb die Geschichte für mich sehr langatmig. Über viel zu viele Seiten plätscherte die Story nur so vor sich hin und wurde selten so spannend, dass ich wirklich das Gefühl hatte, unbedingt weiterlesen zu wollen. Das Interessanteste am Buch war für mich tatsächlich die Entstehungsgeschichte des OED – eine Publikation, die später daraus hervorging, ist übrigens das „Oxford Advanced Learner’s Dictionary“, das mich durch meine Schulzeit begleitet hat.

Der Debütroman der australischen Schriftstellerin Pip Williams wurde in ihrer Heimat zum Nummer-1-Erfolg, in etliche Sprachen übersetzt und mehrfach preisgekrönt. Mich konnte der Roman aufgrund seiner recht langatmigen Erzählweise leider trotzdem nicht vollends begeistern. Vielleicht war es auch nur das falsche Buch zur falschen Zeit. Auf der Homepage des Diana-Verlages, der die deutsche Übersetzung herausgibt, gibt es eine Leseprobe, die einen guten ersten Eindruck vermittelt.

Sehr schön und deshalb unbedingt erwähnenswert finde ich die Aufmachung des Romans mit dem wunderschönen Cover, einem Lesebändchen und der Innengestaltung. So ist das Buch in insgesamt sechs Teile untergliedert, die jeweils für einen Teilbereich des Wörterbuches stehen, von Teil 1, 1887-1896, Batten-Distrustful, bis hin zu Teil 6, 1928, Wise-Wyzen. Im Anhang gibt es eine Zeitleiste der wichtigsten historischen Ereignisse im Roman sowie des OED inklusive eines Fotos von 1915, dessen Entstehung auch im Buch vorkommt. Und sogar die Danksagung der Autorin ist wie ein Wörterbuch aufgebaut, von A wie Acknowledgement bis S wie Support. Doch keine Angst: Man muss nicht gut Englisch können, um das Buch zu verstehen, sämtliche englischsprachigen Begriffe sind übersetzt. Sehr interessant ist in diesem Zusammenhang auch die Anmerkung der deutschen Übersetzerin Christiane Burkhardt im Anhang.