München 72 – Ein deutscher Sommer

Erstellt am 30.5.22. Kategorie: Buchrezensionen
„München 72 - Ein deutscher Sommer“
von Markus Brauckmann & Gregor Schöllgen
Bewertung
★★★★★
Verlag DVA
Buchform gebunden
Erschienen Mai 2022
Seiten 364
Erhältlich beiAP Buch Baldham, Buchladen Vaterstetten

Vor knapp zwei Monaten habe ich an einer Führung durch das olympische Dorf in München teilgenommen. Kaum wieder zuhause, bekam ich vom DVA-Verlag das Angebot, dieses Buch als Rezensionsexemplar zu lesen. Dieses Jahr jähren sich die olympischen Spiele von München zum 50. Mal, aus diesem Anlass gibt es eine ganze Reihe von Publikationen. Diese hier sprach mich aber schon aufgrund einer Leseprobe ganz besonders an und jetzt, nachdem ich die Lektüre beendet habe, kann ich sagen: Dieses Sachbuch liest sich so spannend wie ein Krimi, ist fröhlich, traurig, sehr beklemmend, emotional und informativ zugleich.

In 20 Kapiteln, davon je eines für jeden Wettkampftag, erzählen die beiden Autoren die Geschichte der olympischen Spiele von München, angefangen von der Bewerbung, an deren Erfolg anfangs kaum jemand geglaubt hat, über die Bemühungen, wirklich alles anders zu machen als in Berlin 1936, über die erste Woche der sogenannten „heiteren Spiele“ bis hin zu dem furchtbaren Terroranschlag, der zwölf Tote gefordert hat, und der Zeit danach.

Für jedes Kapitel haben die Autoren zwei, drei Personen herausgepickt, deren Geschichte sie genauer erzählen: mal sind es Athleten, mal ist es die Ausbilderin der Olympia-Hostessen, der Stadionsprecher Joachim „Blacky“ Fuchsberger, ein extra angereister jugendlicher Besucher (Dietmar Holzapfel, späterer Wirt der „Deutschen Eiche“) oder ein anderer Zeitzeuge. Dafür haben die Autoren akribisch recherchiert und zahlreiche Interviews geführt. Viele dieser Personen kommen im Laufe des Buches mehrmals vor, so dass man als Leser*in eine persönliche Beziehung zu ihnen aufbaut und mit ihnen mitfiebert.

Eine der vorgestellten Personen ist Chef-Designer Otl Aicher: Ganz bewusst sollten die Spiele von München einen Kontrapunkt setzen zu den Spielen von Berlin 1936. Im Gegensatz zur Machtdemonstration der Nazis wollte sich Deutschland nun von seiner heiteren, weltoffenen Seite präsentieren. Das war die Vorgabe für sämtliche Planungen und fing schon bei der Auswahl der Farben an. Aicher hat einen umfangreichen Richtlinienkatalog erstellt, der die komplette Gestaltung regelte, vom Plakat über die Hostessenuniformen bis hin zur Verpackung der Zuckerwürfel, „Corporate Design“ in Vollendung.

Wunderbar gelungen ist es den Autoren, die wirklich heitere Atmosphäre der ersten Olympiawoche zu vermitteln, die in den Medien als „Summer of Love“ tituliert wurde. Hätte ich nicht gewusst, wie dramatisch sich das noch ändern würde, so hätte dies bis dahin ein wirklich fröhliches Buch sein können. So aber fühlte ich beim Lesen immer eine gewisse Beklemmung, weil ich ja im Gegensatz zu den im Buch vorgestellten Personen schon wusste, was wenig später passieren würde.

Geschildert werden längst nicht nur die sportlichen Ereignisse, vielmehr vermittelt das Buch viele Eindrücke der damaligen Politik und Gesellschaft, zum Beispiel zum Thema DDR: Erstmals wurden in München 72 die Sportler aus der DDR als eigene Mannschaft mit eigener Fahne und Hymne anerkannt, was nicht zuletzt eine Folge der Politik des damaligen Bundeskanzlers Willy Brandt war. Wie umstritten das war und wie die DDR-Sportler und die handverlesenen Fans, die mitreisen durften, das erlebt haben, schildert das Buch auf eindrückliche Weise.

Geschildert werden auch Episoden, die vom damaligen Frauenbild oder alltäglichem Rassismus erzählen, von den politischen Rahmenbedingungen und von der Stadtentwicklung, die durch Olympia beschleunigt wurde. So wurde 1972 beispielsweise die Münchner S-Bahn eingeweiht, die wiederum für eine starke Siedlungstätigkeit im Umland, auch in meiner Heimatgemeinde, sorgte. Es ist kein Zufall, dass unser hiesiges Gymnasium und die Gemeindebücherei heuer ebenfalls ihr 50-jähriges Bestehen feiern.

Wirklich beklemmend wird die Lektüre bei der Schilderung des Olympia-Attentats vom 5. September 1972. Beinahe minutiös werden die schrecklichen Ereignisse dieses Tages und der darauffolgenden Nacht aus der Sicht von mehreren Zeitzeugen und anhand verschiedenster Quellen erzählt, so dass sich für mich ein umfassendes Bild ergab, das ich in dieser Form zuvor noch nicht hatte. Als die olympischen Spiele 1972 eröffnet wurden, hatte ich gerade erst meinen zweiten Geburtstag gefeiert, so dass ich die Geschehnisse damals zwar schon irgendwie mitbekommen, aber natürlich noch nicht verstanden habe. Seitdem habe ich zwar viel darüber gehört und gelesen, aber noch nie zuvor in dieser Genauigkeit. Und gerade weil man vorher im Buch schon einige der damals Beteiligten näher kennenlernen durfte, bekommt das Ganze eine persönliche Dimension, die das Geschehen noch tragischer macht. Sehr interessant fand ich auch die Schilderungen, wie später mit dem Terroranschlag umgegangen wurde, wie um die Entscheidung, die Spiele fortzuführen, gerungen wurde und wie erbärmlich es viele Jahre lang um die Aufarbeitung der Geschehnisse bestellt war.

So konnte ich das Buch manchmal kaum noch aus der Hand legen, weil es so spannend war, während ich es an anderen Stellen ganz bewusst zugeschlagen habe, um das Gelesene erstmal sacken zu lassen. Nach der Lektüre dauerte es dann auch einige Tage, bis ich so weit war, ein neues Buch anzufangen. Unterm Strich war dies eine sehr bewegende und sehr lehrreiche Lektüre, die mich den schönen Münchner Olympiapark nochmal mit ganz anderen Augen betrachten lässt.

Eine wunderbare Ergänzung zur Lektüre war für mich die Ausstellung, die derzeit in der Bayerischen Staatsbibliothek gezeigt wird: „Olympia 72 in Bildern“ zeigt Fotografien von damals mit sehr anschaulichen Erklärungen dazu. Wer die Gelegenheit dazu hat, sollte sich die Ausstellung nicht entgehen lassen. Sie läuft noch bis zum 4. September und kostet keinen Eintritt. Nähere Infos gibt es auf der Homepage der StaBi. Hier einige Impressionen aus der Ausstellung:

Und last but not least möchte ich auf diesen sehr interessanten Artikel der Süddeutschen Zeitung über das olympische Dorf hinweisen.