London Calling

Erstellt am 13.1.23. Kategorie: Buchrezensionen
„London Calling“
von Annette Dittert
Bewertung
★★★★★
Verlag Hoffmann und Campe
Buchform gebunden, eBook
Erschienen 2017
Seiten 272
Erhältlich beigenialokal.de (Affiliate-Link, siehe Infos hier)

Hinweis vorweg:
Dieses Buch ist zunächst 2017 als gebundene Ausgabe und als eBook im Verlag Hoffmann und Campe erschienen. 2020 folgte eine aktualisierte Neuauflage beim Atlantik-Verlag als Taschenbuch mit leicht verändertem Cover. Der von mir genannte Buchladen-Link führt zu dem derzeit erhältlichen Buch aus dem Atlantik-Verlag, die ursprüngliche Ausgabe aus dem Hoffmann und Campe-Verlag ist zumindest in Papierform nicht mehr erhältlich.
Ich selbst habe jedoch das eBook gelesen, das ebenfalls 2017 erschienen und weiterhin erhältlich ist. Dem eBook ist allerdings ein Vorwort vorangestellt, das im Januar 2020 geschrieben wurde. Inwieweit nun also mein eBook von dem aktualisierten Taschenbuch abweicht, vermag ich nicht zu sagen.

Wer ab und zu im TV die Tagesschau sieht, kommt an ihr nicht vorbei: ARD-Auslandskorrespondentin Annette Dittert. Seit vielen Jahren berichtet sie aus Moskau, New York, Warschau und seit 2008 aus London, wo sie seitdem auf einem Hausboot in Little Venice lebt.

In „London Calling“ berichtet Dittert von ihrem Leben in London, von ihren Begegnungen mit oftmals schrulligen, aber fast immer liebenswerten Briten, sie erzählt Anekdoten aus der Hauptstadt und anderen Teilen der Insel. Der rote Faden, der sich dabei durch alle Kapitel zieht, ist der Brexit. Dittert befragt alle Menschen, die in diesem Buch zu Wort kommen, ob sie für oder gegen den Brexit gestimmt haben und warum. Die Antworten darauf sind oftmals erstaunlich und gewähren tiefe Einblicke in die englische Volksseele, die seit dem Referendum im Jahr 2016 so zerrissen ist wie vermutlich selten zuvor. Dank dieser Geschichten kann ich nun ein klein wenig besser verstehen, welche Gründe, welcher Frust eine knappe Mehrheit der Briten dazu bewogen hat, mit „out“ abzustimmen. Mit der EU und Brüssel haben diese Beweggründe relativ wenig zu tun.

Dittert erzählt von ihrem Hausboot, von geheimen Tunneln und vierstöckigen Kellergewölben, vom Londoner Eastend und von interessanten Seitengassen der Brick Lane, an denen Touristen meist vorübergehen (leider auch ich, als ich 2019 dort im Urlaub war). Sie entführt ihre Leser in die geheime Welt des Temple und verrät, welchen praktischen Nutzen die langen weißen Perücken der Richter und Anwälte auch heute noch haben. Sie gewährt Einblicke in das Leben an der Portobello Road, die kein Tourist so jemals bekommen würde, und besucht den Autor Michael Bond, den Erfinder des Paddington Bear. Bei all diesen Geschichten schildert sie ihre Gesprächspartner und die jeweilige Atmosphäre, in der das Gespräch stattfindet, so anschaulich, dass man das Gefühl hat, selbst mit dabei zu sein.

Offen und ehrlich erzählt sie auch von ihren eigenen Gefühlen als Deutsche in England zu einer Zeit, als der Brexit zwar beschlossen, aber noch nicht umgesetzt war und noch nicht klar war, wie es weitergehen würde mit Großbritannien und Europa. Und sie berichtet von zunehmendem Fremdenhass, der sich auf der Insel ausbreitet und unter anderem eine Konsequenz hat, die ich sehr beklemmend fand: Zur Zeit des deutschen Nationalsozialismus wurden viele jüdische Kinder aus Deutschland nach England gebracht und so vor dem Pogromen gerettet. Die jüdischen Nachfahren der damaligen Kinder hingegen wollen nun vermehrt zurück nach Deutschland, die Zahl der jüdischen Briten, die einen Antrag auf deutsche Staatsbürgerschaft gestellt haben, ist seit 2016 sprunghaft angestiegen.

Ebenso beklemmend fand ich ihre Schilderungen über den Brand im Grenfell Tower, bei dem 2017 nach offiziellen Angaben 72 Menschen ums Leben kamen (inoffiziell wohl weitaus mehr, da die exakte Zahl der Bewohner in dem Sozialwohnungskomplex nicht genau bekannt war). In diesem Kapitel offenbart sich die häßliche Seite einer Stadt, die auf mich wie auf viele andere eine große Faszination ausübt, in der die Kluft zwischen Arm und Reich aber immer größer wird.

So hat mir das Buch alles in allem etliche interessante Einblicke in viele Bereiche des Lebens auf der britischen Insel gewährt, die man so als Tourist niemals bekommen würde. Weitere Einblicke und vor allem viele schöne Fotos von ihrem Hausboot „Emilia“ zeigt die Journalistin auf ihrem Instagram-Account.

[Werbung, unbezahlt]