„Zwei halbe Leben“ | |
von Rebecca Stephan | |
Bewertung
★★★★★
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Verlag | dotbooks |
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Buchform | eBook |
Erschienen | September 2019 |
Seiten | 300 |
Erhältlich bei | AP Buch Baldham, Buchladen Vaterstetten |
Nach all den Krimis der letzten Zeit hatte ich nun mal wieder Lust auf einen Roman – zum Glück habe ich davon noch so einige auf meinem Reader, die nur darauf warten, endlich gelesen zu werden! Meine Wahl fiel auf dieses Buch aus dem Jahr 2019, das sich als äußerst aufwühlende und bewegende Geschichte entpuppte.
Die Geschichte beginnt bereits äußerst beklemmend an einem Tag im März 1944 in Frankfurt: Zwei Fremde, ein Mann und eine Frau, werden nach einem Bombenangriff in einem Luftschutzkeller verschüttet. Sie überleben zwar unverletzt, doch es dauert seine Zeit, bis sie sich aus ihrer misslichen Lage befreien können. In dieser Zeit kommen sie einander näher, zwischen ihnen entwickelt sich eine Bindung, die weit über eine reine Zweckgemeinschaft hinaus geht: Es ist für beide die ganz große Liebe, das Gefühl, den Seelenverwandten gefunden zu haben.
Allerdings sind sie nicht frei füreinander, denn beide sind verheiratet und haben Kinder. Doch ihre Ehen sind nicht glücklich: Sophie leidet unter ihrem gewalttätigen, alkoholsüchtigen Ehemann, Maximilian unter seiner kaltherzigen, verschwenderischen Ehefrau. Auch sonst könnten ihre Leben nicht unterschiedlicher sein, denn Sophie stammt aus ärmlichsten Verhältnissen und musste schon vor dem Krieg oft hungern. Ihre Eltern sind arm und krank, sie muss Rücksicht auf sie nehmen. Maximilian hingegen stammt aus einer reichen Bankiersfamilie, sein Vater ist ein despotischer Patriarch vom alten Schlag, gegen den er sich nicht zur Wehr setzen kann. Für beide kommt eine Scheidung nicht in Frage, zumal damals noch die Schuldfrage galt: Beide hätten im Falle einer Scheidung ihre Kinder unwiderruflich verloren.
Ihnen bleiben vier gemeinsame Wochen, die sie heimlich miteinander in dem fast verschütteten Luftschutzkeller verbringen. Sophies Freundin Lotti ist ihre Verbündete, die sie mit Decken und Nahrung versorgt. Diese vier gestohlenen Wochen werden zu den schönsten in ihrem Leben, bevor sie schließlich schweren Herzens zu ihren jeweiligen Familien zurückkehren, für die sie sich eine Ausrede haben einfallen lassen, die in den ohnehin chaotischen Kriegszeiten niemand anzweifelt.
Bevor sie sich trennen, vereinbaren sie jedoch, das Schicksal über ihr weiteres Glück bestimmen zu lassen: Jedes Jahr am 18. April wollen sie am Frankfurter Römer aufeinander warten – aber nur fünf Minuten lang, denn wenn das Schicksal will, dass sie sich wiedersehen, dann werden sie sich nicht verpassen, so ihr fester Glaube.
Die Jahre vergehen, beide kehren zurück in ihr altes Leben, doch sie können einander nicht vergessen. Jedes Jahr gehen beide zum Römer, doch sie verpassen sich jedes Jahr aufs Neue. Dabei sind ihre Gefühle so stark wie eh und je. Sie schreiben einander Briefe, in denen sie sich ihr Leben erzählen, die sie jedoch nie abschicken – denn keiner weiß vom anderen den Nachnamen oder die Adresse. Und während die Jahre verstreichen, werden beide immer unglücklicher in ihrem jeweiligen „halben Leben.“ Erst als ihre Kinder längst selbst erwachsen sind, nimmt das Schicksal schließlich seinen Lauf – aber werden Maximilian und Sophie jemals zueinander finden? Oder müssen die paar Tage gemeinsamen Glücks für ein ganzes Leben reichen?
Die Geschichte erstreckt sich vom Ende des Zweiten Weltkriegs und die schwere Nachkriegszeit bis hin zu den Wirtschaftswunderjahren und endet schließlich 1964. Durch die sehr unterschiedlichen Lebenswelten von Maximilian und Sophie – sie bettelarm, er Nachkomme eines reichen Kriegsgewinnlers – bekommt man einen sehr differenzierten Einblick in die damalige Zeit. Durch Sophies Freundin Lotti gibt es zudem einen Bezug zu einer realen Geschichte, nämlich den Fall der damals berühmt-berüchtigten Edelprostituierten Rosemarie Nitribitt, die 1957 in Frankfurt ermordet wurde. In der Realität wurde ihr Tod nie aufgeklärt, im Buch hat Maximilians Vater dabei die Hände im Spiel, was der ganzen Geschichte zusätzliche Dramatik verleiht – dabei ist das Schicksal von Sophie und Maximilian ohnehin schon dramatisch genug!
Am Ende blieb ich völlig aufgelöst und aufgewühlt zurück und musste noch lange über das Gelesene nachdenken. Immer wieder habe ich mir die Frage gestellt: Was wäre wenn? Was wäre gewesen, wenn Sophie und Maximilian von Anfang an ihre Nachnamen und Adressen getauscht hätten? Wenn sie für die Treffen am Römer eine feste Uhrzeit ausgemacht hätten? Wenn sie den Mut gehabt hätten, sich gegen alle Konventionen ihrer Zeit aufzulehnen? So hat mich diese Lektüre auch später noch eine ganze Weile beschäftigt.
Der Roman ist ursprünglich 2010 im List Verlag erschienen und wurde 2019 vom dotbooks-Verlag als eBook neu aufgelegt. Bei Rebecca Stephan handelt es sich um ein Pseudonym der Autorin Steffi von Wolff, die auch in vielen anderen Genres zuhause ist. Von ihr habe ich im vergangenen Advent die Kurzgeschichten-Sammlung „Das kleine Glück im Weihnachtstrubel“ gelesen, die mir sehr gut gefallen hat.