Der Geschmack des Lebens

Erstellt am 12.11.21. Kategorie: Buchrezensionen
„Der Geschmack des Lebens“
von Claudia Praxmayer
Bewertung
★★★★★
Verlag cbj
Buchform gebunden, eBook
Erschienen Oktober 2021
Seiten 411
Erhältlich beiAP Buch Baldham, Buchladen Vaterstetten

Dieser Roman spielt zunächst in London, irgendwann in der nicht genau bezifferten, aber vermutlich nicht mehr allzu fernen Zukunft. Hier lebt die 18-jährige Nini mit ihren Eltern. London platzt aus allen Nähten, die Bevölkerung wächst und wächst und das hat immense Folgen: Die berühmten Londoner Parks gibt es nicht mehr, sie mussten dringend benötigtem Wohnraum weichen. Die Quadratmeter, die jedem Einwohner als Wohnraum zustehen, sind limitiert, in zu große Wohnungen werden Co-Wohner einquartiert. Vor den U-Bahnstationen gibt es Blockabfertigung, in der Innenstadt dürfen nur noch SD-Cars, also selbstfahrende Autos, fahren, Präsenzunterricht an den Schulen gibt es nur selten, die Schulen haben gar nicht genug Platz für alle Schüler.

Das Land wird von einer Regierung beherrscht, die einen Überwachungsstaat geschaffen hat: Am Handgelenk tragen die Menschen einen Biosensor, der ihre Nährstoffwerte ans Bürgerregister meldet. Bei guten Werten gibt es Bonuspunkte, die man braucht, wenn man es zu etwas bringen will – in Ninis Fall zu einem guten Studienplatz, denn sie hat gerade ihren Schulabschluss gemacht. Die Regierung kontrolliert auch die Lebensmittel, die genormt sind, so ist beispielsweise eine Zucchini immer 14 Zentimeter lang und 200 Gramm schwer. Das Gesundheitsministerium entscheidet, welche Lebensmittel „sicher“ sind und welche potentiell gefährlich für die Bevölkerung. So mussten die Bauern ihre Saatgutbestände bei den Behörden abgeben und werden seitdem genötigt, nur noch „sicheres“ Saatgut anzubauen.

In dieser Situation erfährt Nini, dass sie von ihrer Patentante Leonore ein Häuschen in Cornwall geerbt hat, unter der Voraussetzung, es selbst zu beziehen. Doch was soll sie, das City Girl, plötzlich auf dem Land? Andererseits: Vor kurzem ist Ninis kleine Schwester Tilda gestorben und Nini leidet fürchterlich unter dem Verlust. Vielleicht kommt da ein Tapetenwechsel gerade recht? Also reist sie nach Cornwall, wo sie Arthur kennenlernt, der bei Leonore als Gärtner gearbeitet hat. Und sie entdeckt im Garten ein geheimes Gewächshaus, in dem Leonore und Arthur Gemüse angebaut haben – Sorten, die Nini gar nicht mehr kennt. Mehr noch: Arthur und Leonore haben aus diesen alten Sorten auch Samen gewonnen und gesammelt. So erfährt Nini von dem geheimen Netzwerk „Taste!“, das es sich zur Aufgabe gemacht hat, alte Sorten zu bewahren.

Anfangs ist Nini entsetzt, denn ihr ist klar, dass dieses Gewächshaus höchst illegal ist und sie ihre Zukunft aufs Spiel setzt, wenn sie dieses verbotene Treiben toleriert. Doch Arthur bringt Nini nach und nach auf den Geschmack – im wahrsten Sinne des Wortes: Nie zuvor hat Nini so köstliche Erdbeeren gegessen oder so knackige, nussige, saftige Salate oder Tomaten, die nicht nur nach Wasser schmecken. Nini erfährt, dass ihre Tante ihr weit mehr vererbt hat als nur das Cottage: Es geht um ein Vermächtnis. Doch unweigerlich begibt sich Nini mit diesem Wissen in große persönliche Gefahr.

Mit diesem Thema hat die Autorin bei mir voll ins Schwarze getroffen, denn schon seit langem beschäftige ich mich mit dem Wahnsinn genmanipulierter Pflanzen, der Macht von Agrargroßkonzernen und Patenten auf Saatgut. Wie heißt es so treffend im Roman? „Wer das Saatgut hat, hat die Kontrolle.“ Und das ist leider keine Erfindung dieses Future Fiction-Romans, sondern bittere Realität. Längst gibt es Konzerne wie Bayer oder Monsanto, die genmanipuliertes Saatgut verkaufen und die dazu passenden Düngemittel und Pestizide gleich mit dazu. Aus den Früchten, die aus diesem Saatgut hervorgehen, lassen sich keine neuen Samen für das nächste Anbaujahr gewinnen, so dass die Bauern gezwungen sind, auch im nächsten Jahr bei Monsanto & Co. zu kaufen – in Ländern wie z.B. den USA oder auch in Indien ist dies längst die Realität. Dabei führen die Konzerne gerne Argumente wie Pflanzenseuchen, Ernährungssicherheit oder die Bekämpfung des Welthungers an, doch in Wahrheit geht es ihnen nur ums Geld. Oder ist der Hunger in den Entwicklungsländern inzwischen Geschichte?
Und auch Patente auf Saatgut und damit auf die Lebensgrundlage der Menschheit gibt es längst. Infos: Initiative „Kein Patent auf Leben“

Claudia Praxmayer weiß, wovon sie schreibt. Sie hat Biologie studiert, engagiert sich für verschiedene Natur- und Umweltthemen und hat schon einige Krimis, Jugendromane und Sachbücher veröffentlicht, in denen diese Themen eine wichtige Rolle spielen. Auch „Der Geschmack des Lebens“ ist eigentlich ein Jugendbuch, sollte aber meiner Meinung nach von Leser*innen jeder Altersstufe gelesen werden, damit möglichst viele Menschen dadurch zum Nachdenken angeregt werden. Mich persönlich hat die Lektüre auf jeden Fall sehr bewegt. Dieses Buch eignet sich auch sehr gut zum Verschenken (vielleicht zusammen mit ein paar Samentütchen?) an Menschen, die Umweltthemen aufgeschlossen gegenüber stehen.