„Das Tor zur Welt - Träume“ | |
von Miriam Georg | |
Bewertung
★★★★★
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Verlag | Rowohlt |
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Buchform | Taschenbuch, eBook |
Erschienen | Juli 2022 |
Seiten | 656 |
Erhältlich bei | genialokal.de (Affiliate-Link, siehe Infos hier) |
Was für ein Buch! Kennt Ihr das, dass Ihr nach dem Ende eines Romans erstmal gar nicht in der Lage seid, etwas Neues anzufangen, weil Ihr das Gelesene erst noch sacken lassen müsst? Genau so ging es mir mit „Das Tor zur Welt“, dem ersten Teil einer Dilogie, deren zweiter Band im Oktober erscheinen soll.
Die Geschichte, die in vier Teile plus Prolog und Epilog gegliedert ist, beginnt 1892 im Alten Land nahe Hamburg. Auf einem Moorhof wächst die 14-jährige Ava in ärmlichsten Verhältnissen auf. Schon im ersten Kapitel erfährt man, dass die Familie, bei der sie lebt, nicht ihre wahre Familie ist: Ihre echten Eltern, so wurde es Ava gesagt, seien nach Amerika ausgewandert und hätten die damals 5-jährige Ava hier zurückgelassen, um sie später nachzuholen. Mittlerweile glaubt Ava nicht mehr daran, dass ihre Eltern sie noch holen werden. Dennoch fühlt sie eine unbestimmte Sehnsucht und das Gefühl, dass sie nicht wirklich hierher gehört. Als die Armut immer schlimmer wird, entschließt sich die Familie, selbst nach Amerika auszuwandern – wie so viele Menschen in dieser Zeit. Doch in Hamburg fällt die Familie der Cholera zum Opfer, nur Ava überlebt und ist fortan ganz auf sich allein gestellt.
Der zweite Teil beginnt 1911 und erzählt zunächst von Claire, der verwöhnten Tochter einer Hamburger Witwe aus der besseren Gesellschaft. Claire ist nicht nur hoffnungslos verzogen, sondern auch sehr temperamentvoll und willensstark. Immer wieder kommt es zum Streit zwischen ihr und ihrer Mutter Agatha und auch sonst eckt Claire überall an. Als Agatha sich in ihrer Not an Dr. Schwab wendet, einen alten Freund ihres verstorbenen Mannes, bescheinigt dieser Claire eine Hysterie und verordnet Arbeit als Therapie – und zwar in den Auswandererhallen der Hapag.
Im dritten Teil, der vor allem in diesen Auswandererhallen spielt, begegnen sich die beiden höchst ungleichen Frauen Claire und Ava. Was keiner geglaubt hätte, geschieht: die beiden Frauen freunden sich an. Für beide ist es das erste Mal im Leben, dass da jemand ist, dem sie sich anvertrauen können. Doch dann überschlagen sich die Ereignisse und Claire weiß keinen anderen Ausweg mehr, als ausgerechnet ihre einzige Freundin zu hintergehen und all ihrer Hoffnungen zu berauben.
Nachdem ich in den letzten Monaten bereits „Arzt der Hoffnung“ gelesen habe, das von Robert Kochs Kampf gegen die Cholera in Hamburg erzählt, sowie „Die Hafenärztin 2“, das auch zu einem wesentlichen Teil in den Auswandererhallen spielt, war dieser Roman nun die perfekte Ergänzung dazu. Vor allem im ersten Teil war ich erschüttert von der schonungslosen Darstellung der bitteren Armut, in der Ava aufwachsen muss. Das ging so weit, dass ich richtige Schuldgefühle hatte, wenn ich mir selbst bei der Lektüre etwas zum Naschen gönnte. Im Gegensatz zu Ava war mir Claire erstmal herzlich unsympathisch. Je mehr ich dann aber über sie erfuhr, umso mehr tat sie mir leid und am Ende nötigte sie mir sogar Respekt ab für ihnen unbezähmbaren Willen und Kampfgeist – Eigenschaften, von denen auch Ava profitiert, die in ihrem Leben schon so viel Schlimmes erdulden musste. Natürlich spielen in der Geschichte auch einige mehr oder weniger zwielichtige Männer eine Rolle, die das Ihre dazu beitragen, den Frauen das Leben schwer zu machen.
Das Buch hat mich von der ersten Seite an gefesselt, es war dramatisch, spannend, beklemmend, zu Herzen gehend, aufwühlend… und definitiv eines meiner Lesehighlights in diesem ersten Halbjahr 2022. Allerdings endet der Roman mit einem Mega-Cliffhanger, der erste Andeutungen preisgibt, wie das Schicksal von Claire und Ava schon in der Vergangenheit miteinander verknüpft war. Und natürlich will ich jetzt auch unbedingt wissen, wie es mit den beiden weitergeht, weshalb ich nun ganz ungeduldig auf das Erscheinen von Band 2 (angekündigt für den 18. Oktober) warte.
Die Autorin Miriam Georg konnte bereits 2021 mit ihrem Zweiteiler „Elbleuchten“ und „Elbstürme“ einen großen Erfolg landen. Leider habe ich diese beiden Bücher selbst noch nicht gelesen, habe aber schon viel Gutes darüber gehört.
Nach der Lektüre von „Das Tor zur Welt“ hat mich das Thema Auswanderung noch eine ganze Weile beschäftigt. Auf der Webseite „Bildarchiv Hamburg“ kann man alte Fotos der Hapag-Auswandererhallen (auch Ballinstadt genannt, nach dem Geschäftsführer der Hapag) anschauen, die einen ersten Eindruck vermitteln. Gleiches gilt für das Gängeviertel, das Armutsviertel, in dem Ava lebt und das auch in den beiden eingangs genannten Romanen eine Rolle spielt.
[Werbung, unbezahlt] [Als Werbung gekennzeichnet, da Rezensionsexemplar erhalten]