„Die Fliedertochter“ | |
von Teresa Simon | |
Bewertung
★★★★★
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Verlag | Heyne |
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Buchform | Taschenbuch, eBook |
Erschienen | Februar 2019 |
Seiten | 491 als Taschenbuch |
Erhältlich bei | AP Buch Baldham, Buchladen Vaterstetten |
Was für eine Geschichte! Gleich mal eine Warnung vorab: Trotz des eher lieblichen Titels handelt es sich hier um eine sehr aufwühlende Lektüre, die mich so manches Mal zum Weinen und noch häufiger zum Nachdenken gebracht hat.
Worum geht es? Die Berlinerin Paulina reist im Jahre 2018 nach Wien, um damit Antonia, einer alten Freundin der Familie, einen Gefallen zu tun. Denn Antonia hat von einem ihr Unbekannten ein Vermächtnis geerbt, das sich bei Paulinas Ankunft als Tagebuch entpuppt. Dieses Tagebuch gehörte einer gewissen Luzie Kühn und umfasst die Jahre 1936 bis 1944. Paulina beginnt zu lesen und gerät dabei immer mehr in den Sog dieser bestürzenden Lektüre.
Luzie war eine junge Berliner Sängerin, eine Halbjüdin, die nach dem Unfalltod ihrer Eltern bei ihren jüdischen Großeltern aufwuchs. Leider fand Joseph Goebbels Gefallen an ihr. Um ihm auszuweichen und ihre Großeltern nicht in Gefahr zu bringen, flüchtete Luzie nach Wien zu ihrer arischen Tante. In Wien fand sie ein Engagement am Theater und verliebte sich in den Ungarn Bela.
Doch auch in Österreich war zu dieser Zeit der Nationalsozialismus auf dem Vormarsch: 1938 wurde das Land zur Ostmark und damit an das Deutsche Reich angeschlossen. Der Judenhass entlud sich mit voller Gewalt, die Grausamkeit kannte keine Grenzen. Auch Luzie musste um ihr Leben fürchten. Umso mehr, seit sie die Avancen eines SA-Mannes zurückgewiesen hatte der daraufhin auf Rache sann. Und diese Rache war fürchterlich: Nach einem tätlichen Angriff verlor sie nicht nur ihr ungeborenes Kind, sondern wurde in die psychiatrische Anstalt am Steinhof eingewiesen, wegen angeblicher „moralischer Debilität.“ Erst nach etlichen Monaten gelang es Luzies Familie, sie dort herauszuholen. Doch die Schreckensnachrichten rissen nicht ab: Die Großmutter starb, Bela und Luzies Großvater kamen ins Konzentrationslager, viele andere Freunde und Bekannte verschwanden spurlos.
In all diesem Wahnsinn verliebte Luzie sich erneut, doch auch mit Richard war ihr kein Glück vergönnt, denn er wurde zur Wehrmacht eingezogen und auf den Russlandfeldzug geschickt. Luzie wurde wieder schwanger und nahm eine neue Identität an, um sich und ihr Kind zu schützen. Als auch diese Vorsichtsmaßnahme nicht mehr ausreichte, musste sie eine folgenschwere Entscheidung treffen…
Kein Wunder, dass Paulina dieses ergreifende zeitgeschichtliche Dokument nicht mehr aus der Hand legen kann, zumal sie sich Luzie immer näher fühlt: Sie besitzt die gleiche Schneekugel wie einst Luzie und deren alte Kleider, die Paulina durch Zufall entdeckt, passen ihr wie angegossen. Als dann auch noch alte Fotos von Luzie auftauchen, tritt die frappierende Ähnlichkeit der beiden Frauen zutage. Doch wie kann das sein?
Zu Beginn der Lektüre habe ich Luzie als etwas naives Mädchen empfunden, das nur eines will: tanzend und singend auf der Bühne stehen. Im Laufe der Ereignisse wandelt sich Luzie zu einer reifen Frau, die mutig über sich selbst hinauswächst, wenn es darum geht, ihre Lieben zu schützen, auch wenn sie selbst daran fast zerbricht. 80 Jahre später wird die Geschichte auch für Paulina zu einem Wendepunkt in ihrem Leben.
Wie schon erwähnt, hat mich die Geschichte ziemlich mitgenommen. Ich habe mit Luzie gelitten und geweint über all die schrecklichen Verluste und Erniedrigungen, die sie erdulden musste. Natürlich wusste ich aus dem Geschichtsunterricht, was damals passiert ist, aber anhand eines solchen Einzelschicksals empfindet man die Greueltaten nochmal ganz anders – denn obwohl Luzies Geschichte fiktiv ist, so hat sie sich so oder ähnlich doch viel zu häufig tatsächlich zugetragen. Beim Lesen musste ich ab und zu bewusst eine Pause einlegen, um das „Erlebte“ erstmal sacken zu lassen. Bei aller Beklemmung wuchs dabei auch meine Überzeugung: Niemals wieder! Wehret den Anfängen, die sich leider auch heute wieder bemerkbar machen. Diese entsetzliche Geschichte darf sich nie, nie, niemals wiederholen!
Der blumige Titel täuscht (wie übrigens auch schon bei Sylvia Lotts Roman „Die Fliederinsel“, wo es ebenfalls um Judenverfolgung geht), hat aber durchaus seine Berechtigung: Denn im Laufe der Geschichte versprach Luzie ihrer ungeborenen Tochter, ihr den blühenden Flieder am Grab von Wolfgang Amadeus Mozart zu zeigen, was ihr auch tatsächlich noch gelang. 80 Jahre später stehen Antonia und ihre Familie an diesem Ort – und bei dieser Szene habe ich wirklich Rotz und Wasser geheult.
Aber dies wäre kein Roman von Teresa Simon, wenn er nicht noch einen versöhnlichen Abschluss finden würde und zwar in Form von leckeren Rezepten, wie sie in keinem ihrer Bücher fehlen dürfen. Wer die österreichische Küche liebt, wird hier fündig: Wiener Schnitzel, Tafelspitz, Saftgulasch, Kaiserschmarrn und viele andere Gerichte mehr können damit nachgekocht werden.